Freitag, 12. Oktober 2012

Seelentätigkeiten

Ich erinnere mich nicht, als Kind ein wiederkehrendes Hobby gehabt zu haben, was mich kreativ sein liess. Ich lernte das Klavierspiel, aber kreativ in und an den Tasten und in meiner musischen Gefühlswelt wurde ich an erst weit später. Ich ging zum Herzenssport, versuchte hier und da noch einen anderen Sport, und blieb letzlich doch nur bei dem einen. Ich fühlte mich lange hingezogen zum Balletttanz - durfte es jedoch nie - und sehnte jahrelang herbei, Violine spielen zu lernen. Auch dies fand wenig Unterstützung daheim, was ich heute, als Mutter irgendwie auch verstehen kann - da ist sovieles, was manchmal einmalig und manchmal immer wieder  aufzutauchen scheint und sovieles, was schon seinen Platz im Kinderalltag hat - wie soll es da nicht schwierig sein, zu entscheiden?!
Im Studium erfüllte ich mir den Wunsch nach dem Violinenspiel. Ich spielte ein paar Jahre, war mir nahezu sicher, dass dies mein Instrument ist - wobei mich die Viola mindestens ebensosehr reizte, ich sie aber niemals selber spielte - und hörte wieder auf. Es fand keinen Platz mehr in meinem Alltag, als ich das Arbeiten begann. Knapp neun Stunden täglich therapeutisches Arbeiten , sehr sehr nah an all den Menschen. Und zusätzlich war da noch der Herzenssport, der einige Wochenstunden forderte und mein langjähriger Nebenjob, in dem ich eine kleine zweite Familie gefunden hatte. Ich schaffte es nicht mehr, die Ruhe und Konzentration aufzubringen, die das späte Erlernen eines Streichinstrumentes forderte.
Ende der neunziger Jahre begann ich durch einen langen Klinikaufenthalt das Malen mit Acryl. Dort kam ich damit in Berührung und meine anfängliche Scheu überwand ich, als ich durch das Hören wunderbarer Klarinettenmusik alles ausblenden konnte und meine ersten Striche tat. Noch heute hängt dieses sehr grosse Bild an einer unserer wenigen freien Wände. Fortan hatte ich stets Leinwände in verschiedenen Grössen und eine Menge Acrylkram daheim. Gerade neulich noch fand ich mehrere alte, unberührte Leinwände. Irgendwann habe ich aufgehört. Ich weiss weder genau wann, noch warum. Eines der letzten Bilder war wohl ein Bild für meine Nichte, was 2003 anlässlich und etwa zum Zeitpukt ihrer Geburt entstand. Ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder in dieser Wohnung gemalt zu haben.
In der zweiten Schwangerschaft versuchte ich mich am Nähen. Niemals hätte ich geglaubt, dass mir dies so viel geben könnte. Ich war bei mir, bei dem genähten Stück und entspannte. Es begleitet mich seitdem. Wenn ich derzeit auch nahezu keinen Weg mehr dorthin finde. 
In einem Urlaub begann ich - in Ermangelung meiner Nähmaschine - das Häkeln. Dazu ein Hörbuch und ich tauchte ein in fremde Welten, während meine Hände werkelten. Auch hier stellte sich ungeahnte Entspannung ein. Ich häkele seit eineinhalb Jahren nicht mehr.
Überall Brüche. Brüche, die ich entweder nicht verstehe oder die ich sehr bedaure. Oder beides. In den Zeiten, in denen ich kreativ bin, fühle ich mich einem Falter, der seine Flügel ausbreitet, gleich. Ent fal tung und ein Davongetragen werden, wie der Falter im Wind. Mir fehlt etwas ohne diese kreativen Dinge. Und doch sind da immer wieder diese Phasen, in denen ich meilenweit entfernt scheine, keine Kraft und keine Muße habe, etwas zur Hand zu nehmen. Wobei eigentlich dieses Kreativ-Sein es ist, was mir die Kraft und Muße erst gibt. Doch der Weg dahin scheint verbaut, unerreichbar. Wird es mit dem Nähen ebenso sein? Kommt manch anderes einst wieder? Was mögen die Gründe für diese Brüche sein? 
Ich glaube, die Kreativität wohnt in mir, ich brauche ihr Ausleben, um mich in die Waage zu bringen. In den Lebenssituationen, in denen sie ruht, scheint mein Leben zumeist im massiven Ungleichgewicht. Doch es stellt sich die Frage, ob dieser starke Unterschied mich lähmt, oder ob die nicht arbeitenden Hände beteiligt sind an der Höhendifferenz der Waagschalen.
Es wundert mich. Zumal ich eben erst bemerkte, dass da häufig Brüche von ehemals geliebten, wichtigen Seelentätigkeiten sind...